Über den Atem und die Angst

Text und Bilder: Christine Meyne

Wer widerstrebt, dem wird nicht Welt und wer zu viel begreift, dem geht das Ewige vorbei.

Dieses Zitat von Rainer Maria Rilke lässt sich wunderbar übertragen auf den Umgang und die Annäherung an die Atemerfahrung. Wie oft geschieht es im Atem, dass wir etwas nicht wahr haben wollen, was wir doch spüren und dann widerstreben, uns dagegen sperren' Oder wie oft wollen wir eine Atemempfindung intellektuell begreifen, es ganz genau wissen, weil wir die Erfahrung als solche in ihrer letzten Unbegreiflichkeit nicht stehen lassen können'

Schutzengel

Wer widerstrebt, dem wird nicht Welt und wer zu viel begreift, dem geht das Ewige vorbei.

Folgen Sie mir bitte ins Detail dieses Zitates von Rainer Maria Rilke:

“Streben” drückt Handlung aus: eine eilige Bewegung auf etwas zu, ein starkes Bemühen, etwas zu erreichen.
Ich will!
Streben hat mit Ehrgeiz zu tun. Das wird im zweiten Teil des Zitats noch einmal deutlicher: ”... und wer zu viel begreift…”... der strebt nach Wissen, um etwas zu befriedigen, zu haben, zu beherrschen, was aber tatsächlich so nicht zu befriedigen ist. Es bewirkt vielmehr genau das Gegenteil: es erzeugt Mangel: ”...dem wird nicht Welt, ... dem geht das Ewige vorbei.”
Die Vorsilbe “wider” meint auch: etwas nicht tun wollen, einer Sache nicht nachgeben wollen, sich gegen etwas bemühen.
Ich will nicht!

Streben bzw. widerstreben sind zielgerichtete Bewegungen. Der Motor ist der Wille – gleich-gültig ob hin oder wider.

“Wider” und “zu viel” kann man auch als Gegenpole auf einer Skala sehen: hier die zu große Wegbewegung, dort die zu große Hinbewegung. Beide Bewegungen haben die Tendenz, weiter auseinander zu driften, aus der Mitte zu führen. Heraus aus mir, weg von mir.

Die Mitte nicht spürbar werden zu lassen, sie zu vermeiden – möglicherweise ist das der eigentliche, tiefere Sinn dieser Bewegungen. Denn Mitte muss man er-tragen können. In der Mitte ist Stille der Bewegungen und Absichten. In der Mitte gibt es keinen Willen, keine Gegensätze. Mitte ist das nackte Sein. Mitte ist Welt, die sich ereignet, in der ich mich ereigne – bei vollem Bewusstsein dessen, was geschieht.

Der Atem ist ein Weg in die bewusste Mitte

Die Bewegungsrichtung des “wider” oder “zu viel” wird im Atem durch “einfaches” Nachgeben nach innen gekehrt bzw. in ihrer Form ganz aufgehoben. Dadurch erschließt sich eine neue Ebene. Hier haben Handlungen und Bewegungen wie, “viel wissen wollen” (zu viel begreifen) oder “widerstreben” oder auch Ängste, Emotionen, Erwartungen, Gedanken, Bilder, Vorstellungen oder körperliche Sensationen keine Bedeutung mehr. Sie werden vielmehr als Abwehrstrategien des Ich erkannt.

Im Atem gibt es viele verschiedene Mitten. Um nur einige zu nennen: die Mitten der Atemräume, die Mitten ihrer Verbindung/en, den Atempulspunkt im Hara, die Mitte des Atemzyklus, oder auch die Mitte der Atembewegung selbst. All diesen Mitten ist gemeinsam, dass sie sich erst erschließen, wenn wir das Streben sein lassen können und zur Ebene des absichtslosen Geschehen-Lassens finden.
Welt wird im Atem durch geschehen-lassen. Nicht eingreifen, sondern da sein und warten, offen sein/werden f'r das was ist. Sich mit dem bewegen, mit dem gehen, was ist.

Den Einatem in uns fließen lassen. Erfahren, er ist da, er wird uns aus der Fülle heraus gegeben. Im Ausatem das rechte Maß (die Mitte) finden zwischen weglassen, verströmen oder kraftvoll richten. Die Atempause ist wiederum die Mitte des Atemzyklus und hier geschieht das Eigentliche: wir werden wesentlich. Durch die Bereitschaft uns bewegen zu lassen, das was ist zu nehmen und, das was kommen wird, ohne Tun oder Wollen, ohne Absicht sich ereignen zu lassen. In dieser Mitte erleben wir das Wunder, wie alle Gegensätze integriert werden. Wir erleben, wie uns der Atem zukommt und uns neu gestaltet. So wird ein Stück Welt.

Alarm-ängste sind oft im Vordergrund

F?r Eve, die 2006 gestorben ist

Woran liegt es, dass bei vielen Menschen schon die Ahnung von Mitte den Atem stocken lässt, Angst auslöst und andere Abwehrbewegungen wie Widerstreben und/oder Beherrschen wollen (zu viel Wissen) aktiviert'
Zuerst kommt die Ahnung, dann kommt die Angst. Denn widerstreben kann ich nur, wenn ich weiß oder ahne, dass es da etwas gibt, dem ich widerstreben will. Ängste sind an sich schon Abwehrmechanismen für etwas, einen Zustand, der darunter liegt und nicht gesp'rt werden darf/soll. Ängste kann man verstehen wie eine Alarmanlage. Sie weisen auf Gefahren hin, damit der Körper rechtzeitig reagieren kann, sich rechtzeitig aus dem Gefahrenfeld entfernen oder notfalls auch angreifen kann (widerstreben, intellektualisieren, rationalisieren etc.).
Manchmal rechtfertigen Ängste auch Hilflosigkeit und die Unmöglichkeit, Verantwortung zu übernehmen. Und/oder sie sind auf die stützende oder helfende Zuwendung anderer Menschen gerichtet. Und/oder sie halten verschiedene andere Abwehrmechanismen aufrecht, die Schwäche und weitere Mangelerfahrung zementieren.
Ängste können sich mit der Zeit automatisieren, wenn man sie als das Eigentliche nimmt und nicht mehr dahinter schaut. Solche Ängste machen hilflos und abhängig Sie werden reflexartig erlebt und können quasi mit dem Körper verwachsen – verkörpert – sein.

In der Atembehandlung und in den Übungen erscheinen diese Alarm-ängste oft im Vordergrund, sobald bestimmte Themen berührt werden. Insbesondere dann, wenn es um das Lassen in die Mitte geht. Die Folge ist: ein Herausfallen aus dem Kontakt und damit aus der Übung. Denn 'ngste verschrecken und verhindern den Atem. Ängste sind wie ein Tuch, das einen anderen Zustand verdeckt: ein Tuch über die Erfahrung von Welt geworfen, die vielleicht ganz am Anfang des persönlichen Lebens schmerzhaft war.

Das ist der verhaltene Einatem, der nicht durchschwingen kann, dem vielmehr über- und Unterspannung, Wider-Bewegung und Fest-Haltung den freien Fluss in alle Räume verhindern. Das ist der Einatem, der nicht nehmen kann. Es ist auch der kontrollierte Ausatem, der seine Kraft zum Widerstreben einsetzt und nicht das Vermögen hat, sich ganz und wahrhaftig in die Welt zu geben. Das ist die Atempause, die nicht vertrauend warten und geschehen lassen kann bis die Welt sich wandelt und sich Neues zeigt. Das ist die Atempause, die gehalten, übergangen oder forciert wird.

Wer so atmet, '... dem wird nicht Welt'

Welt wird mir. Ich kann sie nicht machen; ich habe keinen Einfluss darauf. Keine Macht darüber. Das ist der Gegensatz zum Streben, durch das ich oder mein Ego durch handelnde Manipulation die Welt machen will. Macht, Manipulation, Ansehen, Geld, Anerkennung, Leistung usw. – all das gehört in diese Welt, die für viele die einzig denkbare oder mögliche Welt ist. Es ist eine Welt des Mangels, in der ich abhängig bin, immer mehr brauche und nichts zu geben/nachzugeben habe. Es ist die enge Welt des ängstlichen Ich, dass mit allem Wissen nicht begreifen kann, dass Welt alles ist, was ist. Welt ist nicht nur das Ego mit seinem Gefühl von Nacktheit oder Angst oder Ur-Misstrauen.

Welt ist das was ist. Alles. Jetzt. Nur in diesem Moment. Welt wird mir erfahrbar über meine offenen Sinne. Der Mensch (Körper, Geist, Seele in ihrem Zusammenspiel) ist ja ursprünglich und eigentlich bis in die kleinste Verästelung darauf angelegt, die Welt zu empfinden und aufzunehmen, damit wir handeln und uns in der Welt verhalten können, damit wir uns in der Welt seiend als Teil von ihr erfahren und unser Leben erhalten können.

Ich glaube, das krampfhafte Begreifen-Wollen, das Widerstreben, die Ängste und andere Abwehrhandlungen und Abwerhzustände kommen aus einer realen, tiefen, ursprünglichen Mangelerfahrung, die das Ich nicht annehmen kann. Der Mangel ist in mir und ich will ihn vermeiden und Fülle anhäufen. Aber weil er in mir ist, und ich von dieser Basis aus agiere, reproduziere und wiederhole ich den Mangel mit meiner zu großen Hin- bzw. starken Wegbewegung. Ich agiere, statt mich auszuliefern. Ich widerstrebe, statt nachzugeben.

Wir verschließen uns vor den Zu-mutungen der Welt, indem wir die Welt in ihrem vollen Umfang nicht zulassen, sondern wesentliche Teile über Spannung und Gegenbewegung aussperren. Das sind leibliche Phänomene. Wir sperren die Welt leiblich aus.

Das haben wir früh gelernt. Der Organismus des Babys hat keine andere Möglichkeit, als körperlich auf die Welt zu reagieren: bei angemessener, erfüllender, liebevoller Umwelt frei schwingend, entspannt, ruhig. Bei überfordernder, mangelhafter, liebloser Umwelt mit krampfen, Atem anhalten, anspannen, schreien oder erschlaffen.
Da schon lernen wir die Welt anzunehmen und auszusperren – nicht aus Angst, sondern als vorläufig einzig zur Verfügung stehende Reaktion in der frühen Situation des totalen Ausgeliefert-seins an das, was uns gegeben wird.

So glaube ich, dass der Ursprung der reduzierten Atembewegung und des Widerstrebens nicht in der Angst liegt – die ist erst ein Zweites – sondern in dem tatsächlichen, organischen Unvermögen des Säuglings auf Nicht-Gewährung und Vorenthalten der Fülle, anders zu reagieren als körperlich: vermeidend, Spannung setzend und widerstrebend. Ich glaube auch, dass unser geistig seelisches Wechselspiel auf diesen un-mittel-baren Körpererfahrungen fußt. Daher wird später der sich entwickelnde Intellekt auf seine Weise auch in den Dienst des Widerstrebens genommen. Er will begreifen, was nur erfahren werden kann.

Widerstreben - Verwaltung des Mangels'

Demut

Also ist “widerstreben” möglicherweise schlicht die Verwaltung des Mangels' Weil der Glaube an die Fülle fehlt' Weil der Ego-Intellekt das, was er sich nicht vor-stellen (vor sich stellen, vereinzeln, objektivieren ) kann, auch nicht für wahr nimmt' Wenn mir mein gewachsenes Ich-Gehirn/Gefühl sagt: jenseits des Wissens gibt es nur Mangel, dann kann ich nicht schöpfen, dann habe ich Angst vor der Leere, dann will ich das Kleine, was ich genommen habe, auch nicht wieder her geben. Dann setze ich Intellekt und Wille ein um zu widerstreben, um festzuhalten.

In der frühen Kindheit ist mein Körper die ganze Welt. Und mit dieser Körpererfahrung werde ich atmend wieder konfrontiert. Dem muss ich mich stellen. Hier muss ich mich zuerst hineinlassen: in die leibgewordene Mangelerfahrung.

Sich auszuliefern, ohne gegenzuspannen, sondern mitschwingend – genau dies fordert der Atem über den uns Welt werden kann. Einatmend nehme ich Welt in mich auf, ausatmend gebe ich mich in die Welt. In der Atempause warte ich, bis mir neuer Atem zukommt – bis mir wieder Welt wird. Aus dem Vollen schöpfen. Das ist Atem.

Sich bewusst auf den Atem einzulassen bedeutet für mich auch, immer wieder die Fülle im nächsten Moment loszulassen und bereit zu sein für den Tod. Denn mit jedem Ausatem gebe ich mich ganz ab und warte auf den neuen Einatem, mit dem neues Leben kommt. Der Atem fordert mich auf, mich führen zu lassen, mich wieder auszuliefern. Er verlangt von mir, mich zu öffnen, mein Leben immer wieder neu zu nehmen, indem ich den Zumutungen der Welt weich nachgebe, mitschwinge, mich einschwinge in den Rhythmus.

Mein Leben ist das Geschenk der Welt an mich. Dieses Geschenk schlicht anzunehmen, ist die Kunst des bewussten, gelassenen Atems. Dem Sein nachzugeben und das Streben zu lassen. Das ist das eigentlich Ungeheuere der Atemerfahrung. Dann geht das Ewige nicht vorbei und ich habe vielleicht die Empfindung, eins zu sein in allem, alles zu sein in einem und eins zu sein mit allem.

Mitschwingen