Panik und Hingabe
Die Behandlung von Herrn Sch.

Herr Sch., ein 70jähriger ehemaliger Kriminalbeamter, brach innerlich völlig zusammen, als ihm die Ärzte eröffneten, dass es für seinen Krebs keine Therapie mehr gibt, dass daher die kurative Behandlung abgebrochen und ihm eine Palliative Behandlung angeraten werde.
Als er auf unserer Palliativstation ankam war er in Panik mit starker Luftnot und Verwirrung. Ich konnte ihn beruhigen durch Halten, zunächst der Hände, später der Beine und Oberarme und mit deutlicher verbaler Anleitung zum Ausatmen. Wir hatten dann ein Gespräch in dem er seiner Angst vor dem Tod und dem Sterben Luft machte. Obwohl er ein großer kräftiger Mann war, wirkte er auf mich, wie ein Junge. Als ich nachfragte, sprach er von den letzten Kriegsmonaten, als er als 14jähriger Flackhelfer sein musste. Da war er in Todesangst. Mir schien es, als sei die aktuelle Angst mit dieser, sein Leben lang verdrängten, Angst vermischt.
Wir gingen erneut in eine Behandlungssequenz in deren Verlauf die Erregung sich vollständig löste und er in einen ruhigen tiefen Atemfluss kam. Durch sanfte Bewegungen löste ich die Spannung in seinen Handgelenken und Oberarmen, strich den verkrampften Nacken aus und seine Schultern konnten sich senken. Zum Abschluss sprachen wir über Möglichkeiten, eine sich ankündigende Atemnot zu erkennen und durch tiefes Ausatmen und Dehnen vielleicht zu verhindern.

Es ist soweit

Das hatte ihm sehr geholfen, erzählte er das nächste Mal. Wir sprachen dann über weitere Möglichkeiten, wie Aufsetzen und Gedanken ablenken. Eine Ressource waren seine ehemaligen Arbeitskollegen. An sie zu denken brachte sogar ein Lächeln und Entspannung in sein Gesicht. Ich begann wieder mit einer lösenden Behandlung an Oberarmen und Brustkorb. Das tat ihm sehr gut, er atmete mehrfach tief durch und die Atmung wurde frei. Er sprach dann von dem Tod seiner Frau vor zwei Jahren und von seinen beiden Söhnen, die sich um ihn kümmerten, aber jetzt, wo er nicht mehr „der Macher“ von früher war, Schwierigkeiten mit ihm haben. Sie konnten mit seiner „Schwäche“ nicht umgehen, weil sie ihren Vater zeitlebens so anders erlebt hatten, stark und bestimmend. Wir sprachen auch über die Möglichkeit, Medikamente zu nehmen, wenn Spannung und Angst zu groß werden sollten. Das beruhigte ihn zusätzlich.
In den folgenden Tagen hatte er ab und zu kleinerer Anflüge von Panik, aber eine wirkliche Atemnot wie am ersten Tag auf Station konnte er jedes Mal abwenden.
Ich war noch zwei Mal bei ihm, wir sprachen über den Atem und sein Leben und wurden immer wieder still. Dann spürte er seinen ruhig fließenden Atem und ich bestätigte ihn mit meinen Händen im Kontakt und in der Begegnung einfach nur mitgehende.
Als ich einige Tage später wieder zu ihm kam, sagte er mir, er wolle jetzt sterben, er sei so weit, aber es ginge nicht so leicht, wie er gedacht hatte. Tatsächlich fiel es ihm schwer wirklich die Kontrolle abzugeben und geschehen zu lassen. Wir sprachen lange über den Ausatem und die Atempause, in die er hineinmündet und aus der zu seiner Zeit kein neuer Einatem mehr kommt. Ich behandelte ihn sanft im Bewusstsein der Atempause.
In der Woche darauf war er in eine Biotsche Atmung verfallen. Er „erkannte“ allerdings meine Anwesenheit. Ich begleitete seinen Ausatem mit sanftem beruhigendem Druck auf den Oberarm und in seiner Hand und mit Worten und Atemgeräuschen. Ich ging nach einer Weile zu einem „Jaaa“ im Ausatem über und spürte an seinem hörbaren „Jaa..“ Ausatem, wie er gehen wollte, aber gleichzeitig hielt noch etwas. Es war atmosphärisch spürbar, wie enttäuscht er war, wenn der Einatem wieder kam. Wir atmeten zusammen.
Am nächsten Tag drückte ich mich etwas um das Zimmer herum, denn ich wusste irgendwie, dass es jetzt soweit war. Als ich schließlich zu ihm ging, war er final. Ich spürte aber an seinem Hautwiderstand, dass er mich erkannte und begrüßte. Er gab auch ein zustimmendes Geräusch von sich, als ich sagte, dass ich nun da sei und öffnet sogar kurz die Augen. Als ich sagte, dass er nun gehen könne, stimmte er zu und schloss die Augen. Ich ließ mich wieder ganz auf den Ausatem ein. Eine Hand an seiner Schulter, die andere auf dem Oberschenkel oberhalb des Knies. Mit gutem Druck und Halt ausatemfördernd stand ich bei ihm, ermutigte auch verbal und durch lauteres Mitatmen zum Ausatmen. Nach etwa 10 Minuten wurde es sehr still um uns und in uns. Es war eine Meditation in Versunkenheit. Plötzlich spürte ich, dass er mich ansah. Ein vollkommener, klarer Blick aus seinen blauen Augen. Er hielt den Blick und ich spürte sein tiefes „Danke!“ an dieses Leben. Ich nickte und fühlte, wie er sich ganz überließ, der Begleitung und dem Halt meiner Hände, meinem Blick. Es war wie ein „Hinausfließen“ mit mir als „Geburtshelferin“. Er befähigte mich, diesem Blick standzuhalten. Er hielt sich an mir fest und ich blieb stehen, fühlte, dass ich die Kraft dazu habe, weil er sie mir gibt. Ich war vielleicht seine Mutter oder ein Engel in den hinein er sich geben konnte. Es war völlige Hingabe von uns beiden. Ich fühlte mich wie weiter Raum in den hinein er über die Augen gleiten konnte, während meine Hände ihn und seinen Ausatem aufnahmen. Es war völlig sanft und unendlich still und weit. Einen Moment gab es überhaupt keine Trennung, kein Sterben. Voller Kraft und Lebendigkeit, Klarheit, Helle und vor allem Dankbarkeit und Ruhe. Sein Atem wurde schwach, bis er versiegte. So starb Herr Sch.. Erst da umnachtete sein Blick und ich begann zu weinen, überwältigt von der Intensität dieser Minuten. Ich hielt ihn noch weitere Minuten bis sich meine Hände lösen konnten.